Heute am frühen Morgen, es war kaum hell geworden, haben wir gleich zweimal das Geräusch von Rotoren gehört. Hubschrauber, die über unser Haus geflogen sind. Aus dem Sommer kennen wir das: Badeunfälle am Meer, Kreislaufversagen aufgrund von Hitze. Es sind um die 15 Grad hier, die Zugänge zum Meer sind gesperrt, um Ausflügler zu vermeiden. Wir wissen nicht, wer sich an Board der Hubschrauber befindet. Aber wir wissen, dass hier Patienten per Hubschrauber verlegt werden müssen, damit auch sie so schnell wie möglich dort beatmet werden können, wo es noch Kapazitäten gibt.
Und plötzlich ist alles anders…
Was wir normalerweise heute machen würden? Vermutlich würde ich mich mit einer Freundin aus dem Nachbarort und der Familie treffen. Spaziergang am Meer, Spielplatz für die Kinder, ein Eis beim gemütlichen Bummel durch Sirolo oder Numana. Wir würden uns über das wieder wärmer werdende Wetter freuen, Pläne für die kommenden Wochen schmieden, den Kindern beim Herumtollen zusehen und am Abend die Kleidung für den Kindergarten rauslegen. Morgen, am Montag gäbe es das “Cooking Lab” im Kindergarten und vermutlich müsste ich danach die Schuluniform in die Waschmaschine stecken, weil mal wieder Teigreste darauf gelandet wären. Ich würde mich morgens an den Schreibtisch setzen, meine Mails checken, Nachrichten kontrollieren (bei denen es garantiert nicht um Corona ginge), wir würden einkaufen und am Nachmittag wäre “Baby Dance” – ein wirklich süßer Kindertanzkurs mit einer großartigen Tanzlehrerin für Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren. Zuletzt war der zur Karnevalszeit. Die Mädchen rannten als Elsa und Marienkäfer durch die Halle, tanzten zu “Let It Go”, pusteten Blütenblätter durch den Raum.
Das Coronavirus war da vermutlich längst hier, genau am gleichen Tag wurde in den Marken der erste Patient positiv getestet. Gefühlt war die Bedrohung zwar weitaus näher gerückt, aber noch jenseits der Grenzen der Region und vor allem auf den Norden konzentriert. Wir fühlten uns noch sicher. Nach dem Tanzen sind wir zum Lidl gefahren, es gab die geliebte Brezel – es war eigentlich fast alles wie immer.
Niemand kann den Sterbenden die Hand halten
Jetzt hingegen starren wir am Abend auf Zahlen, die kaum zu begreifen sind. Wir lesen und hören von mehreren hundert Toten. Keine Zahlen, sondern Menschenschicksale. Hinter jeder Zahl verbirgt sich ein Leben und das Leben zahlreicher anderer, deren Zukunft sich durch einen tragischen Verlust für immer verändern wird. Niemand der Angehörigen kann den Sterbenden die Hand halten, ihnen beistehen. Und die Angehörigen bleiben mit dem Gefühl zurück, ihre Lieben in den letzten Momenten nicht unterstützt zu haben, ihnen ihre Angst nicht genommen haben zu können. Sie können sie nicht für die Beerdigungen herrichten, sie können sie nicht bei sich zu Hause aufbahren und sogar an der Beerdigung selbst kann nur ein ganz enger Kreis an Personen teilnehmen. Dabei werden Beerdigungen in Italien oft sehr groß begangen – mit der Verwandtschaft und Freunden, die aus dem ganzen Land anreisen, mit Bekannten, Nachbarn, mit etlichen Leuten aus dem Ort, die sich verabschieden und den Angehörigen Beileid spenden wollen. Jetzt müssen sie sogar auf tröstende Umarmungen verzichten.
Es sind 15 Grad draußen, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Wir hören keine Motorräder hinter dem Haus, weil Biker nun zu den ersten Schönwetterfahrten aufbrechen. Kein Kinderlachen draußen, da die Kinder sicher in den Häusern und Wohnungen sitzen. Stattdessen gehen wir zwar kurz auf den Balkon (der immer noch nass ist – wir haben draußen einen Rasenteppich verlegt), spielen in der Wohnung und ich mache mir Gedanken darüber, ob ich einen Mundschutz für Kinder nähen kann. Glücklicherweise gibt es Tutorials im Netz und eigentlich verlassen wir die Wohnung ja auch nicht, aber trotzdem fühle ich mich sicherer, wenn wir Schutzmaterial zu Hause haben. In der kommenden Woche gibt es auch einen Mundschutz pro Familie von der Stadt Osimo. Freiwillige haben die verpackt, das Abfallwirtschaftsunternehmen wird sie in den kommenden Tagen verteilen. Bis zu fünf Mal könne man sie nutzen, dann jedoch sei kein ausreichender Schutz mehr gegeben.
Wie lange wird die Pandemie dauern?
Es ist zermürbend, dass niemand weiß, wie lange die Pandemie andauern wird.
Es tut weh zu sehen, dass auch andere Länder zusehends in eine schlimme Situation schlittern.
Und es ist unverständlich, dass so viele Menschen nach wie vor Ausflüge machen, obwohl sie doch an Ländern wie Italien sehen, wie schlimm alles werden kann. Könnte man das nicht einfach als Wissensvorsprung nutzen und sich dementsprechend für ein paar Wochen einschränken, damit das Leben danach schneller wieder in gewohnte Bahnen gelenkt werden kann?
Wir finden es richtig, dass die Behörden kontrollieren, dass sie Strafanzeigen stellen, Leute in ihre Schranken weisen – und auch, dass Politiker deutliche Worte wählen. Dann, wenn die erschütternden Berichte von Ärzten und Schwestern und die sich häufenden Todesnachrichten nicht ausreichen, um die Leute zur Vernunft zu bringen. Es geht nicht nur um Euch! Ihr könntet selbst unwissentlich und ohne Symptome das Virus in Euch tragen und es an andere Personen weitergeben. An solche, die nicht so viel Glück haben und für den Egoismus und die fehlende Rücksichtnahme von anderen mit dem Leben zahlen. Eigentlich sollte es jeder längst wissen. Die Häuser und Wohnungen sollte man nur aus wichtigen Gründen verlassen. Also bitte, bitte bleibt zu Hause!
29. März 2020: Unser Tag zu Hause
Die komplette Schuluniform ist erst einmal “eingemottet”. Alles gebügelt und in die Kiste verpackt. So schnell werden wir die nicht mehr benötigen. Die Maßnahmen hier – also auch die Schul- und Kindergartenschließungen – sollen bis mindestens zum 18. April 2020 – verlängert werden. Noch gibt es dazu jedoch keine offizielle Ansage von Regierungsseite.
- Wir haben heute lange im Bett gelegen. Doch auch, wenn man sich die Decke über den Kopf zieht: Die aktuelle Situation kann niemand ausblenden.
- Das Spielzimmer unter dem Dach ist aufgeräumt – größtenteils, mein Mailpostfach auch mehr als gestern.
- Unser Vorrat an frischem Gemüse neigt sich langsam dem Ende zu. Ich hoffe doch sehr, dass sich der Gemüsehändler spätestens Anfang der Woche zurückmeldet.
- Wir überlegen uns, ob wir kleine Geschenke basteln. Solche, die wir nach dieser Krise an Freunde übergeben können. Ganz nach dem Motto: “Wir haben immer an Euch gedacht.”
- Unsere Tochter singt mit Vorliebe Weihnachtslieder. Immer schon. Und das tut so gut. Schöne Lieder, alle voller Hoffnung. Und wir hoffen so sehr, dass die Welt an Weihnachten wieder schön sein wird. Auch früher natürlich, aber den Wert der Familie und einer Zeit wie Weihnachten, die man vorrangig besinnlich (hoffentlich) im Kreise der Lieben verbringt, bekommt allmählich eine ganz andere Bedeutung.
- Doch erst einmal schauen wir am Abend wieder gespannt auf die Zahlen, die Ihr wie gewohnt weiter unten findet…
29. März 2020: Die Zahlen des Tages
Diese Zahlen gab der Zivilschutz am heutigen Abend bekannt:
- 756 Tote (10.779 Tote insgesamt in Italien)
- 5217 neue Coronafälle (rund 700 Fälle weniger als gestern, jetzt insgesamt 97.689 Infektionen)
- 13.030 Personen gelten als geheilt
- 73.880 Personen sind aktuell erkrankt (3906 davon befinden sich in einem kritischem Zustand)
Situation bei uns in den Marken
In den vergangenen 24 Stunden sind in den Marken 185 weitere Personen positiv getestet worden. Das sind auf den ersten Blick nur wenige mehr als gestern (177), allerdings ein viel größerer prozentualer Anteil, da es gester 177 Positive bei 824 Abstrichen waren und die heutigen 185 das Ergebnis von 547 Gestesten sind.
Bislang wurden 3558 Personen in den Marken positiv getestet (davon sind 386 Personen im Alter zwischen 27 und 97 Jahren verstorben, 12 Personen gelten in den Marken als genesen – also vergleichsweise nur sehr wenige). Übrigens wurde die erste Person in den Marken am 25. Februar 2020 positiv getestet. Das zeigt auch ganz gut, wie sehr sich die Realität hier im Zeitraum nur eines Monates verändert hat.
Umgerechnet auf die Gesamtbevölkerungszahl in den Marken von 1.525.271 Personen beträgt das Ansteckungsrisiko derzeit 1: 428. Da in Italien davon ausgegangen wird, dass die Dunkelziffer der positiven Personen in etwa zehnmal so hoch ist, ist auch das Ansteckungsrisiko um ein Vielfaches höher als hier angegeben.
6523 Personen befinden sich in häuslicher Isolation/Quarantäne, davon zeigen 1757 Personen aktuell Symptome. Aktuell sind 1168 Personen in den Marken wegen des Coronavirus in den Krankenhäusern untergebracht. 168 davon liegen auf den Intensivstationen, 311 weitere auf der Intensivzwischenpflege.
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